Andreas
Frye | Oscar Wilde - Die Ballade vom
Zuchthaus zu Reading
Biographischer
Hintergrund
Oscar
Wilde erlebte im Jahre
1895, aus der vollen Höhe seines
überragenden literarischen und gesellschaftlichen Erfolges - ganz
London sprach über nichts anderes als über seine Stücke
und seine exzentrische Persönlichkeit -, einen Absturz, der in der
Geschichte der Menschheitsprominenz seinesgleichen sucht.
Wilde, verheiratet und Vater
von zwei Kindern, hatte seit geraumen
Jahren, nach seinem persönlichen Coming-out als Homosexueller,
seine sexuelle Präferenz ungeniert ausgelebt. Zum Verhängnis
wurde ihm dabei seine große Liebe zu dem sechzehn Jahre
jüngeren Lord Alfred Douglas, Sohn des achten Marquess of
Queensberry. Dieser Marquess konnte sich mit der Verbindung seines
Sohnes mit Wilde nicht abfinden und verfolgte letzteren mit heftigen
Bedrohungen und Beleidigungen. Wilde konterte dies zunächst
kühl und souverän. Dann aber, im Februar 1895 - Wildes
Komödie "The Importance of Being Earnest" hatte gerade
sensationelle Premiere gefeiert -, ließ ihn eine mit einer
plumpen Beleidigung handschriftlich versehene vom Marquess abgegebene
Karte die Geduld verlieren.

Und Wilde verlor nicht nur die Geduld,
sondern auch den Blick für
die Realitäten. So dafür, daß Homosexualität vom
englischen Strafgesetz mit Zuchthaus bis zu zwei Jahren bedroht war.
Das entsprechende Gesetz war erst neun Jahre zuvor, im Jahre 1886
erlassen worden, bemerkenswerterweise demselben Jahr, in dem Wilde
sein erstes manifestes homosexuelles Verhältnis gehabt hatte.
Wilde, überstrahlt von seinem eigenen Glanz, realisierte nun
nicht, daß allzuvielen Leuten nicht nur seine
enge Beziehung zu Alfred Douglas, sondern auch sein munterer Verkehr
mit etlichen anderen Männern, auch mit Strichern, bekannt war. Und
er tat, was er besser gelassen hätte: er verklagte Lord Douglas'
Vater wegen Verleumdung und Beleidigung. Die Klage scheiterte, Wilde
mußte sie zurückziehen. Durch das Verfahren aber waren
Fakten bekannt geworden, die der Staatsanwaltschaft keine andere Wahl
ließen, als einen Prozeß gegen Wilde selbst zu
eröffnen.
Nun setzte ein hektisches
Bedrängen, Beflehen und Beschwören
aller Freunde Wildes ein, die die Sachlage klar sahen, und ihn dringend
baten, England sofort in Richtung Frankreich zu verlassen. Aber das
Unfaßbare geschah: Wilde rührte sich nicht von der Stelle.
Gebunden durch seinen Ruhm, durch seine naive Ungläubigkeit, durch
den Komfort des erfolgreichen und buchstäblich fetten Lebens, und
wohl nur in bedingtem Maße durch die Bindung des Dichters an
seine Muttersprache, wollte Wilde die Möglichkeit eines solchen
Untergangs nicht wahrhaben. Denn Veröffentlichung und Verkauf
seiner Werke wären in Frankreich kein Problem gewesen, da Wilde
auch international längst berühmt genug war, und er
außerdem - wie zum Beispiel seine "Salomé" - auch auf
Französisch schrieb. Seine Umgebung, einschließlich des
damals schon recht bekannten George Bernard Shaw, bekniete Wilde nun
bis zur Anklageerhebung immer wieder, auf jeden Fall erstmal das Weite
zu suchen - er tat es nicht. Mit der Klageerhebung gegen ihn aber hatte
Wilde sofort jeglichen bürgerlichen Kredit verloren, sein
Vermögen wurde konfisziert und zwangsversteigert. Wilde
mußte sich Geld leihen, für die Kaution, um sich
überhaupt im Prozeß verteidigen und sein Leben fristen zu
können. Das Urteil des bewegten, aus formalen Gründen zweimal
gegen Wilde angesetzten und Jahrhundertskandal machenden Prozesses
lautete schließlich auf Höchststrafe: zwei Jahre schwerste
Gefängnishaft mit Zwangsarbeit - Zuchthaus.
Wilde war nicht der Mann,
dies durchzustehen. Aber welcher Mensch von
Menschlichkeit wäre das schon? Die Bedingungen, unter denen man
damals in englischen Zuchthäusern mehr starb als lebte, werden von
Wilde in seinen späteren Briefen und eben, hier allerdings in
lyrischer Dichtung, in der Ballade vom Zuchthaus zu Reading lebhaft
beschrieben. Wilde wurde im Gefängnis krank. Am nachhaltigsten
schlug sich dabei eine von den Gefängnisärzten unzureichend
behandelte Mittelohrentzündung nieder, die Wilde nicht nur eine
einseitige Taubheit eintrug, sondern die er auch für den Rest
seines Lebens nicht mehr loswurde, und die sich drei Jahre nach seiner
Entlassung derart verschlimmerte, daß sie aufs Mittelhirn
übergriff und eine Meningitis verursachte, an der Wilde
schließlich starb. Darüberhinaus aber schlug sich das
Erlebnis des Zuchthauses, in der Erfahrung dessen, was Menschen
Menschen anzutun in der Lage sind, verheerend auf Wildes Seele nieder.
Der Mann war geschlagen und gebrochen, als er im Mai 1897 das Zuchthaus
Reading und wenige Tage darauf auch gleich England verließ, um
nach Frankreich zu ziehen. Am 30. November 1900 stirbt der am
16.10.1854 in Dublin als Sohn eines Augen- und Ohrenarztes geborene
Oscar Wilde auf seinem Hotelzimmer in Paris, ohne - abgesehen von der
Ballade vom Zuchthaus zu Reading - je wieder zu nennenswerter
literarischer Produktion zurückgekehrt zu sein.